Mehrheitswahlrecht vs Verhältniswahlrecht
Skizzieren Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen Wahlsystemen mit Verhältniswahlreicht und Wahlsystemen mit Mehrheitswahlrecht. Beurteilen Sie, ob eine Änderung zum Mehrheitswahlrecht in Österreich realpolitisch machbar ist und ob eine solche Änderung anzustreben wäre.
In Österreich wird nach dem Prinzip des „Verhältniswahlrechts“ gewählt – das bedeutet, dass das prozentuelle Wahlergebnis sich möglichst genau in den zur Vergabe gelangenden Mandaten abgebildet werden soll. Freilich gibt es hier gewisse Einschränkungen, etwa:
- Besonders hohe Prozenthürden für den Einzug (in Kärnten früher etwa bei zehn Prozent) in ein Gremium verzerren die Mandatsvergabe.
- Landesverfassungen wie in Wien, die der Mehrheitspartei überdurchschnittlich viele Mandate zusprechen und damit die Mandatsvergabe gegenüber dem Wahlergebnis verzerren.
- Zugangsbeschränkungen bei Kandidatur durch Mindesterfordernis an Unterstützungsunterschriften
Freilich hat der Verfassungsgerichtshof in beiden Fällen kein verfassungsrechtliches Problem erkannt – ganz im Unterschied zum deutschen Bundesverfassungsgericht. Hier wurde das negative Stimmgewicht beeinsprucht. Und die „Drei Prozent Hürde“ für den Einzug ins EU-Parlament wurde erst 2014 gekippt – mit dem Ergebnis, dass nun etwa auch die „Juxpartei“ „DIE PARTEI“ im EU-Parlament Sitz und Stimme hat.
Generell ist die Verfassung in Österreich hier wesentlich weniger streng als das deutsche Grundgesetz. Eine Einführung des Mehrheitswahlrechts in Österreich würde etwa einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat bedürfen. Eine Volksabstimmung wäre nur nötig, wenn es zu einer „Gesamtänderung der Verfassung“ kommt, wenn also wesentliche Elemente („Bausteine der Verfassung“) betroffen wären. Das wäre also etwa bei der Einführung des Mehrheitswahlrechts der Fall.
Was unterscheidet nun das Mehrheitswahlrecht vom Verhältniswahlrecht? Während beim Verhältniswahlrecht das prozentuelle Ergebnis in der Anzahl der vergebenen Mandate abgebildet wird, gilt beim Mehrheitswahlrecht, dass jene Person (der Vertreter jener Partei) als gewählt gilt, die in einem bestimmten Gebiet die meisten Stimmen bekommt (etwa in einem Wahlkreis). Darüber hinaus gibt es noch Extremformen, bei denen auf Bundesebene der siegreichen Partei 50 Prozent der Mandate + 1 Mandat zufällt. Das soll für klarere Entscheidungen sorgen, ist aber als Quasi-Ersatz für den „Ruf nach dem starken Mann“ demokratiepolitisch zumindest hinterfragenswert.
Nach dem Prinzip des Mehrheitswahlrechts wird etwa in Großbritannien gewählt. Auch die US-Präsidentschaftswahl basiert auf dem Mehrheitswahlrecht: In fast allen US-Bundesstaaten gilt das Prinzip „the winner takes it all“. Damit gelten nur jene Wahlmänner als gewählt, die dem im betroffenen Bundesstaat siegreichen Kandidaten zugerechnet werden (obwohl sie theoretisch in ihrer Entscheidung nicht gebunden sind). Hier kann es also dazu kommen, dass US-weit ein Präsidentschaftskandidat zwar mehr Stimmen auf sicher vereinigen kann, aber weniger Wahlmänner hinter sich vereint und somit unterliegt. Theoretische Ausgleichsmöglichkeit wäre hier, dass einzelne Wahlmänner von der Ungebundenheit ihrer Stimme Gebrauch machen und so doch noch dem bundesweit siegreichen Kandidaten zur Präsidentschaft verhelfen. Diese Variante erscheint nach US-politischer Logik freilich undenkbar.
Zurück zu Österreich: Hier würde es bei der Einführung eines Mehrheitswahlrechts zu einer erheblichen Verzerrung kommen. Wie stark diese Verzerrung ist hängt freilich davon ab, wie die Wahlkreise genau definiert werden. Die Plattform „Neuwal“ hat in einem Gedankenexperiment einen möglichen Wahlausgang auf Basis der jetzigen Wahlkreise berechnet (http://neuwal.com/index.php/2013/10/02/was-ware-wenn-mehrheitswahlrecht-in-osterreich/). Hier zeigt sich, wie stark dieses Wahlrecht mehrheitsfördernd wäre: SPÖ und ÖVP hätten zusammen eine komfortable Zweidrittel-Mehrheit. Eine Regierungsbildung ohne die Siegerpartei wäre realpolitisch de facto undenkbar (also etwa ein Fall „Dritter als Kanzler“ wie nach der Wahl 1999 unmöglich).
Befürworter eines Mehrheitswahlrechts in Österreich (also etwa die „Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform – http://www.mehrheitswahl.at/, die freilich die absolute Mandats-Mehrheit für die siegende Partei zwingend vorsieht), versprechen sich durch das Mehrheitswahlrecht klarere Entscheidungen, keine Flucht aus der Verantwortung (es gibt keinen Zwang, aus Rücksicht auf Koalitionspartner Wahlversprechen zu brechen), stabile und handlungsfähige Regierungen statt lähmender Zwangskoalitionen (was vor allem bei gesellschaftspolitisch diametral entgegengesetzt positionierten Koalitionsparteien zu Stillstand führt) und klare gesellschaftspolitische Positionierungen.
Freilich würde – selbst bei einem „minderheitsfreundlichen Mehrheitswahlrecht“ – das neue System eine massive Schwächung von Kleinparteien zur Folge haben, die de facto kaum mehr Handlungs- oder Kontrollmöglichkeiten hätten. Darüber hinaus könnte die siegreiche Großpartei wesentlich leichter ohne die andere Großpartei regieren (die beiden größten Parteien hätten dann von der Anzahl der Mandate her tatsächlich wieder den Anspruch auf den Namen „Großpartei“).
Und genau hier liegt die realpolitische Unmöglichkeit der Einführung des Mehrheitswahlrechts in Österreich (sieht man einmal vom unsicheren Ausgang einer Volksabstimmung ab). SPÖ und ÖVP brauchen für eine Änderung der Bundesverfassung eine weitere / weitere Parteien. Diese werden sich jedoch schon aus Selbstschutz hüten, ihrer künftigen realpolitischen Marginalisierung zuzustimmen.
Auch die Großparteien selbst könnten „Angst vor der eigenen Courage“ bekommen. Schließlich wäre es für die siegreiche Partei wesentlich einfacher, die andere „Großpartei“ aus der Regierung zu kippen. Und vor kaum einem Szenario haben Vertreter von Parteien mehr Angst, als vor dem Verlust von Macht und Einfluss – in der Regierung, in den von der Regierung zu besetzenden Stellen und Posten.
Mag es also gerade angesichts einer oft zitierten „Lähmung“ der politischen Landschaft durch die gesellschaftspolitisch so differenten Koalitionsparteien noch so wünschenswert sein, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen (und allein dieses Ziel ist mehr als hinterfragenswert), lässt die realpolitische Situation in Österreich eine derartige Umgestaltung des Wahlsystems ohnehin nicht zu.
Diese Ausarbeitung ist die Beantwortung einer Prüfungsfrage an der Donau-Universität Krems / Politische Kommunikation bei Prof. Plaikner und Prof. Filzmaier.